Nun sag, wie hast du’s mit … Literatur?

Die neue Beitragsreihe befasst sich mit verschiedenen Themen, zu denen jeder Stellung beziehen kann, oder zwangsweise einen bestimmten Standpunkt einnimmt. Inspiriert wurde ich – wer hät’s gedacht? – von Goethes Faust. Dort stellt Gretchen Faust folgende Frage:

 Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?

Faust I, V. 3415

Solch einer provokanten Frage kann er nicht ausweichen, denn jede Äußerung ist eine Antwort. Der folgende Beitrag handelt nicht von so etwas „Intimen“ wie Religion, sondern er befasst sich mit einem Thema, mit dem ich mich wohl am häufigsten auseinandergesetzt habe oder noch beschäftige, da es für mich sehr faszinierend und mitreißend ist: mit Literatur.

Teil 1: Wie hast du’s mit Literatur?

Wenn ich mich an meinen damaligen Deutsch Unterricht zurückerinnere, dann muss ich sagen, dass die Behandlung einer jeden „Zwangslektüre“, rückblickend weder den Autoren noch ihrer Epoche gerecht wurde. Als Schüler fragte man sich ständig, wozu der Unterricht gut sein soll. Man bekam nie eine Erklärung dafür, wieso sich bereits die Eltern und Großeltern mit Goethes Faust herumschlagen mussten. Damals verstand man nie, was die sogenannte Gretchenfrage ist, oder welchen Zweck Literatur und die Beschäftigung mit ihr überhaupt haben sollen. Stattdessen lernte man Stilmittel auswendig und versuchte Gedichte im Sinne des Lehrers zu interpretieren. Obwohl ich zu Grundschulzeiten gerne Aufsätze schrieb und es liebte kleine Geschichten zu verfassen, hasste ich es später Erörterungen oder Argumentationen zu schreiben – ich schätze meine Kreativität ging unterwegs verloren. Meine Englisch Lehrerin sagte zu meinen Eltern bereits in der fünften Klasse, dass ich sprachlich untalentiert sei und nie auch nur eine Fremdsprache beherrschen würde. In der Oberstufe wählte ich einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt und hatte letzten Endes Bio und Chemie als Leistungskurse.

Gewinnbringende Erfahrungen aus früheren und längeren Auslandsaufenthalten wie in Spanien, Chile oder in der Ukraine oder durch Reisen im übrigen Europa motivierten mich jedoch für die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Literaturen, die ich mir mit meinem Studium erhalten wollte. Ich studierte Slavische Philologie (Russisch) und Romanische Philologie (Spanisch). Die Kreativität kam wieder zum Vorschein. Während meines Studiums verfasste Texte zu den verschiedensten Themen und lerne mehrere Sprachen.

Kommen wir nun zum Kern der Gretchenfrage zurück; zu dem, was Literatur für mich bedeutet und was uns als Schülern entging. Vielleicht habt ihr dann eine andere – oder bessere? – Meinung von Literatur. Zu Beginn eines Philologie Studiums setzt man sich zunächst mit der Frage auseinander, was Literatur überhaupt ist. Man findet heraus, dass Literatur ein Prozess ist und der Begriff sich stetig wandelt (vgl. auch Magic und Tolstoi: Teil 2 Tolstoi). Literatur ist Kunst; sprachlich-ästhetisch, schön und stilvoll. Sie zeichnet sich durch Poetizität sowie Fiktionalität aus, ist uneindeutig, nebulös und muss interpretiert werden.

Literatur und Wissen standen seit Platon in einem Spannungsverhältnis. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entfernte sich die Kunst aber schließlich von der Philosophie. Kunst und Dichtung wurden aufgewertet und galten als selbstständige Disziplinen, vgl. Baumgartens Ästehik (1750/58) oder Kants Kritik der [ästhetischen] Urteilskraft (1790). Bis heute folgt Literatur keinen Gesetzmäßigkeiten (außer denen der Interpretationsvorgaben der Lehrbücher und abgesehen von dem eurozentristischen Verständnis von „Weltliteratur“).  Kunst ist zweckfrei und sinnlich. Sie wird nach Geschmack und dem subjektiven Empfinden und nicht nach ihrem Wahrheit- oder Erkenntnisgehalt beurteilt (vgl. u.a. Herder, Goethe). Dennoch wissen wir, dass literarische Werke selbst nie unwissend sind, denn in ihnen spiegelt sich der Geist der Zeit sowie das Wissen der damaligen Epochen wider.

Werfen wir z.B. einen Blick zurück auf Balzacs La Comédie Humaine (1830er-), die ein Gesamtbild der französischen Gesellschaft entwirft. Manche erinnern sich vielleicht sofort an den Begründer der Science-Fiction, Jules Verne. Seine Werke befassen sich u.a. mit dem Wissen der Naturwissenschaft. Sie geben Aufschluss über die damaligen Technologien und neusten Errungenschaften wie Elektrizität. Als Stoffe verarbeiten sie die Vererbungslehren (Darwin, Cuvier, Linné) oder neue Erkenntnisse der Physik.

Oder denken wir einmal an das Wissen der Kriminalliteratur: Dort wird häufig – durch Spurensuche, Hypothesenbildungen, Berufung auf das Wissen der Naturwissenschaften oder mit der Verwendung neuer Mittel, wie das der Daktyloskopie – ein entstandenes Ungleichgewicht im Rechts- oder Sozialsystem durch einen Ermittler wiederhergestellt. Schon die literarischen Sujets der Fallgeschichten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts waren wichtig für die Herausbildung und Weiterentwicklung der Anthropologie, Medizin sowie der Psychologie. Zur Zeit der Romantik treffen wir auf die ersten Detektivfiguren wie auf Das Fräulein von Scuderi (1819) von E.T.A. Hoffmann. In der Schule fand ich seine Erzählung Der Sandmann (1816) übrigens mit am verstörendsten, noch vor Max Frischs Drama Andorra (1961). Als einer der bekanntesten Detektive des 19. Jahrhunderts, der bis heute unsterblich ist, gilt Athur Conan Doyles Sherlock Holmes (1886-). Uns sind desweiteren Ermittler aus Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe wie aus The Murders in the Rue Morgue (1841) bekannt, um noch ein weiteres Beispiele zu nennen (vgl. Eggers, Michael: Vorlesung: Literatur und Wissen aus komparatistischer Sicht).

Literarische Werke sind Dokumentationen. Sie zeigen uns, womit sich Autoren und Protagonisten thematisch auseinandersetzen. Dramen können versteckte Gesellschaftskritik enthalten oder einfach nur Unterhalten, sie geben dabei trotzdem Aufschluss über ihr Publikum. Ich bin gespannt, was Geschichtsforscher und Literaturwissenschaftler in 100 Jahren über unsere heutige Zeit zu sagen haben. Bücher verraten uns eine Menge, es kommt nur darauf an, wie man sie liest oder lesen will. Sie regen, noch mehr als Filme, unsere Fantasie an, erweiterten unseren Horizont und entführen uns in andere Welten. Mit ihnen kann man der Realität entfliehen, entspannen oder mit anderen Figuren in ein Abenteuern ziehen.

Als Kind las ich fast alles von Astrid Lindgren und erlebte Abenteuer mit Ronja Räubertochter (1981) oder Pippi Langstrumpf (1945-48). Ich vertiefte mich in Romane wie Mio mein Mio (1954) und die Brüder Löwenherz (1973). Im Stau während Familienurlauben wünschte ich mir oft, dass unser gelber VW Bus ein Fliwatüüt wäre, ein Fortbewegungsmittel aus Boy Lornsens Werk Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt (1967) mit dem man über die anderen Autos hätte hinweg fliegen oder gleich den direkten Seeweg hätte nehmen können. Außerdem liebte ich die Tintenherz-Trilogie (2003-) von Cornelia Funke, las die Wilden Hühner (1993) und war ein begeisterter Fan von Robert Athers Die drei ??? (1968-). Ich wuchs mit Harry Potter (1997-2007) auf und konnte es nie erwarten, dass ein neuer Teil herauskam. Übrigens stellte J.K. Rowling vor einigen Tagen die ersten zwei Kapitel eines bisher noch unveröffentlichten Märchens online. Sie verfasste es vor mehr als 10 Jahren und las es ihren Kindern kapitelweise vor.  Jetzt erscheint The Ickabog auf der gleichnamigen Website als Fortsetzungsreihe kapitelweise online, um Kinder wie auch Eltern während der Corona-Krise zu unterhalten und zu erfreuen. Da wird man schon etwas nostalgisch. Auf die Suche nach der Weisheit in Kinderbüchern kann man sich selbst noch als Erwachsener begeben, z.B. wenn man Jahre später wieder einmal Antoine de Saint-Exupérys Erzählung Der kleine Prinz (1943) liest, Erich Kästerns Roman Die Konferenz der Tiere (1949) oder wie eine meiner Freundinnen, Lyman Frank Baums Kinderbuch, Der Zauberer von Oz (1939), zur Hand nimmt.

Im Moment widme ich mich eher dem Erzählen statt dem Lesen. Mit Krieg und Frieden bin ich immer noch nicht durch. Aktuell dient der Roman vor allem als Unterlage für meinen Laptop, wenn ich es mir, wie jetzt, zum Schreiben auf dem Bett gemütlich mache…

Zum Schluss stelle ich dir aber noch die Gretchenfrage:

Wie hast du’s mit … Literatur?

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Beinecke Rare Book & Manuscript Library, New Haven, United States: Photo by Tim Bish on Unsplash.com

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